Exkurs: Zum ersten Verwendungszweck gönnen wir uns einen philosophisch-poetischen Exkurs zur Frage, was denn Erkenntnis sei und wie wir sie erlangen. Es handelt sich um den Aphorismus Nr. 324 aus *Die fröhliche Wissenschaft“ von Nietzsche (2006, S. 213).

In media vita. - Nein! Das Leben hat mich nicht enttäuscht! Von Jahr zu Jahr finde ich es vielmehr wahrer, begehrenswerther und geheimnissvoller, - von jenem Tage an, wo der grosse Befreier über mich kam, jener Gedanke, dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe - und nicht eine Pflicht, nicht ein Verhängniss, nicht eine Betrügerei! - Und die Erkenntniss selber: mag sie für Andere etwas Anderes sein, zum Beispiel ein Ruhebett oder der Weg zu einem Ruhebett, oder eine Unterhaltung, oder ein Müssiggang, - für mich ist sie eine Welt der Gefahren und Siege, in der auch die heroischen Gefühle ihre Tanz- und Tummelplätze haben. "Das Leben ein Mittel der Erkenntniss" - mit diesem Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar fröhlich leben und fröhlich lachen! Und wer verstünde überhaupt gut zu lachen und zu leben, der sich nicht vorerst auf Krieg und Sieg gut verstünde?

Studierende der schulischen Heilpädagogik fragen oft, welche Rolle das flexible Interview im Unterricht denn spielen könne? Für Schulpsychologinnen und Schulpsychologen sind die flexiblen Interviews interessante qualitative Verfahren, doch wie passen sie in die von Faktoranalysen scheinbar verifizierten Modelle der Persönlichkeit? – Beginnen wir die Antwort mit dem Titel des  Aphorismus 324. „In media vita“. Der Ablativ ist eine adverbiale Bestimmung auf Fragen des Woher, des Wovon, des Wo, des Wann, des Womit und des Wodurch. All das fängt der Titel ein, als das „in der Mitte des Lebens“. Der befreiende Gedanke ist nach Nietzsche: dass das Leben selber ein Experiment des Erkennenden sein darf. Es muss nicht nur Pflicht, Verhängnis und Betrügerei sein. Der grosse Befreier kann Pädagoginnen und Pädagogen zur Mitte des Schullebens führen. Er kann psychologischen Arbeits- und Beratungssituationen Auftrieb und Bedeutsamkeit geben, in dem das Experiment des Erkennenden durch befreiende Methoden gefördert wird. Das flexible Interview ist so ein Werkzeug, in der Psychologie wie in der Pädagogik. Das flexible Interview einzusetzen bedeutet, dass man vorwärts schreitet. Es bedeutet, dass man die Spekulationen verlässt, wie sie in Schulstunden „über das Leben“ angestellt werden. Man wählt eine Methode, um sich „in medias res“ zu begeben (Piaget, 1975). Paradoxerweise wird nun eingewendet, dass man bei Verwendung dieser Methode den Schulstoff (oder den Lehrstoff an den Hochschulen) nicht durchbringt, weil scheinbar zu wenig Zeit zur Verfügung steht, um zum Kern der Lehrstoffe vorzudringen. Dem steht entgegen, dass man dank dieser Methode den Schulstoff und die Lernenden besser kennen lernt. Und welcher Pädagoge, welche Pädagogin, welcher Schulpsychologe und welche Schulpsychologin möchten sich dieser Erkenntnis entziehen?